Captured Motion. Bewegungsnotationen im Raum
Wenn man den abgedunkelten Kubus in der Ausstellung betritt, sieht man sich von magisch leuchtenden Liniengeflechten umgeben. Lichtpunkte und blaue Linien bewegen sich auf zwei Wänden übereck und über den Boden. Eine Stimme ist zu hören, die die Funktionsweise von Maschinen beschreibt. Es ist die Stimme eines Ingenieurs, dessen redebegleitenden Gesten in einem Motion Capture Lab aufgezeichnet wurden.1 Dazu wurde er mit Markern versehen, die von mehreren Infrarotkameras erfasst wurden. Die blauen Linien gehen auf die Markierungen an den Händen zurück, während die orangen Lichtpunkte die jeweilige Position von Kopf, Schultern und Armen wiedergeben.
Das Ausgangsmaterial für die Rauminstallation der Künstlerin geht also auf eine Laborsituation zurück. Während Wissenschaftler sich für die Qualität der dort erhobenen Daten interessieren, beschäftigt sich Anette Rose mit den unterschiedlichen Formen der Visualisierung. Seit Jahren steht die Beobachtung von Arbeits- und Ausdrucksgesten im Zentrum ihrer Arbeit. Sie befasst sich mit den hoch differenzierten Bewegungen der Hand sowohl im Umgang mit Werkzeug und Maschinen als auch mit Ausdrucksgesten. Wenn wir etwas erläutern oder erzählen, setzen wir oft zur Verdeutlichung oder Untermalung unsere Hände ein. Anette Rose hat bereits in frühen Arbeiten den Blick auf die meist unbewussten Gesten gelenkt. Um die eigenen Beobachtungen zu vertiefen, hat sie den Kontakt zu GestenforscherInnen gesucht und mehrfach mit ihnen zusammengearbeitet. Vom Exzellenzcluster der RWTH Aachen wurde sie als Artist in Residence eingeladen, um in verschiedenen Forschungslaboren zu filmen. Bei den Maschinen, die der Ingenieur im Motion Capture Lab der Universität Aachen beschreibt, handelt es sich um verschiedene Textilmaschinen, die Anette Rose für den Werkzyklus „Captured Motion“ gefilmt hat.2 Dieser Zyklus ist der neueste Teil ihrer umfangreichen „Enzyklopädie der Handhabungen“, an der die Künstlerin seit 2006 arbeitet.
Rose filmt dafür in Betrieben unterschiedlicher Art. Sie interessiert sich sowohl für Produktionsprozesse, in denen es eine Interaktion zwischen Hand und Maschine gibt, wie für vollautomatische Herstellungsverfahren. Bevor sie zu filmen beginnt, setzt sie sich intensiv mit Menschen und Maschinen auseinander, die in den Arbeitsablauf involviert sind. Dann entscheidet sie über die Einstellungen der Kamera und die Kadrierung. Sie filmt den Bewegungsablauf stets aus mehreren Perspektiven. Die Projektionen der unterschiedlich kadrierten Einstellungen werden im Raum konfiguriert. In der Installation setzt die Künstlerin die unterschiedlichen Perspektiven so zusammen, dass sich ein visuelles Spannungsverhältnis zwischen den Projektionen ergibt. Für den Betrachter entscheidend ist, dass er sich sowohl der einzelnen Aufnahmesequenz zuwenden kann als auch dem synchronen Zusammenspiel der unterschiedlichen Ansichten.
In Modul #15 der „Enzyklopädie der Handhabungen“ kombiniert Anette Rose zwei separat gefilmte Beobachtungen von Gesicht und Händen von Menschen bei der Arbeit.3 In einer Projektion sieht man den konzentrierten Blick einer Arbeiterin in einer Porzellanmanufaktur und in einer zweiten ihre Hände, die die Wände einer Schüssel glätten. Die übereck gestellten, großen Projektionen erlauben eine Konzentration des Blicks auf das Zusammenspiel von Hand und Auge.
Der Anthropologe André Leroi-Gourhan (1913–2005) sah in diesem Zusammenspiel eine entscheidende Voraussetzung für die menschliche Entwicklung. Eine differenzierte Hand-Auge-Koordination ist die Voraussetzung für den effizienten Einsatz von Werkzeug und die Grundlage für die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. In der Installation fügt Rose zu der Beobachtung von Gesicht und Händen der Porzellanarbeiterin die Aufnahme eines vollautomatischen Tellerroboters hinzu.4 In der Kombination mit dem manuellen Werkprozess wird der Blick auf den Greifarm der Maschine gelenkt, der zwar keinerlei Ähnlichkeit mit der Hand hat, jedoch darauf ausgelegt ist, ihre Greif- und Verputzbewegungen nachzuahmen.
Anette Rose hängt nicht an alten Handwerkspraktiken. Ihre Arbeit vermisst Abstände zwischen den unterschiedlichen Produktionsformen. Sie beobachtet die Übergänge von manuellen Arbeitsgesten zur automatisierten Produktion. Der Fokus liegt neuerdings dabei auf der Textilproduktion. Die maschinelle Herstellung von Stoffen reicht bis zum Beginn der Industrialisierung zurück. Der Jacquard-Webstuhl mit seinem Lochkartensystem war am Beginn des 19. Jahrhunderts Hochtechnologie. Heute werden Hightechmaschinen für technische Textilien entwickelt, die als Leichtbauteile für Autos, Flugzeuge und die Raumfahrt eingesetzt werden. Der Radialflechter und die Multiaxialkettenwirkmaschine, deren Funktionsweise der Ingenieur beschreibt, produzieren vollautomatisch solche industriellen Gewebe und Geflechte.
Die Flechtmaschine stand 2016 im Mittelpunkt der Ausstellung „Captured Motion“ im Edith-Russ-Haus in Oldenburg. In einem gewaltigen Rad drehen sich gegenläufig rote und gelbe Spulen, über die Fäden laufen, die sich um ein zentrales Rohr flechten. Die Videoprojektionen der Rauminstallation zeigen das Rad mit den Spulen und ihm gegenüber die Achse, um die herum das Geflecht entsteht.5
Obwohl das Verfahren hochmodern ist, kann der Betrachter ohne weiteres erkennen, dass die Verflechtung auf alten textilen Praktiken beruht. Die Künstlerin unterstreicht die historisch anthropologische Dimension, indem sie eine Fotografie von einem Maibaumtanz von 1920 als Diaprojektion in die Installation einbezieht. Wie die Spulen drehen sich Männer und Frauen dabei gegeneinander und verflechten die mit einem Ende am Maibaum befestigten Bänder.
Die Übereinstimmung zwischen dem Tanz und dem maschinellen Ablauf ist verblüffend: Ein großes Diagramm auf dem Boden zeigt die Bewegungsbahn der Spulen und beschreibt zugleich die Choreographie des Tanzes (vgl. Abbildung 3).
Neben den zwei großen Videoprojektionen des Radialflechters ist eine Highspeed-Aufnahme der Spulen im Close-up zu sehen. Das Aufzeichnungsverfahren, mit dem die Künstlerin ihr Formvokabular der Bewegungsnotation erweitert, dehnt und verlangsamt die Bewegung der Spulen. Die Hochgeschwindigkeitsaufnahmen machen Abweichungen im Ablauf sichtbar, die mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen sind. Die Schwarz-Weiß-Sequenz besticht durch die metallische, skulpturale Form der Spulen vor dem dunklen Hintergrund.6
Die Installation „Captured Motion“ zeigt den Produktionsprozess aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen medialen Übersetzungen. Indem Rose Diagramm, Fotografie, Video und Highspeed-Aufnahmen im Raum konfiguriert, öffnet sie durch diese Vielschichtigkeit visuell einen Erkenntnisraum, der zugleich ein Erfahrungsraum ist. Der Betrachter steht im Getöse der Maschine zwischen den Projektionen und Bildern. Ihre Schönheit ist verblüffend und der Rhythmus des Maschinentakts entfaltet Sogwirkung.
Die Dreikanalinstallation, in der die Gestenspuren des Ingenieurs aus drei Perspektiven zurück in den Raum gezeichnet werden, fügt der visuellen Verdichtung eine weitere Ebene hinzu. Mit der Übersetzung seiner redebegleitenden Gesten in Leuchtspuren referiert die Künstlerin auf die Geschichte visueller Bewegungsstudien und ihre Verwendung in den Arbeitswissenschaften. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts versuchten Eadweard Muybridge (1830–1904) in den USA und Étienne-Jules Marey in Frankreich mit Fotokameras Bewegungsverläufe festzuhalten. Wir können die Bewegung eines Läufers oder eines Pferds zwar sehen, aber sie sind zu schnell, als dass wir uns Rechenschaft über jede Phase der Bewegung geben könnten. Der Einsatz von Medien macht es möglich, das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Diese Möglichkeit hat die Künstlerin in ihrem Werk von Anfang an fasziniert. Mit ihrem Medium Video kann sie durch die Wahl von Einstellung und Kadrierung den Blick auf das konzentrieren, was unserer Wahrnehmung entgeht. Im Fall Rede begleitender Gesten ist das so interessant, weil weder der Ausführende noch sein Gegenüber sich der Gesten im eigentlichen Sinne bewusst ist. In einer frühen Arbeit hat Rose dafür bereits einen eigenen Visualisierungsmodus entwickelt. In „16 Traumstücke“ von 2001 erzählen sechzehn Frauen ausgefallene Träume, die für sie eine besondere Bedeutung behalten haben.7 Mimik und Gestik zeigen, wie schwierig es ist, das nichtlineare Traumgeschehen in nachvollziehbare Sätze einer Beschreibung zu übersetzen. Drei Kamerapositionen wurden so gewählt, dass Gesicht und Hände im Ausschnitt zu sehen sind. Durch Begrenzung und Fokussierung herausgestellt, können wir sie bewusst wahrnehmen.
Für die Gestenforschung ist diese Wahrnehmung zentral. Hier überschneiden sich die Interessen der Künstlerin mit denen der WissenschaftlerInnen. Auch sie müssen sich mit Fragen der Darstellung befassen und Modelle der Visualisierung entwickeln. Mit diesen Visualisierungspraktiken hat sich die Künstlerin bei der Erschließung ihrer Themen immer wieder intensiv beschäftigt. Das zeigt ihr Künstlerbuch „Enzyklopädie der Handhabungen. 2006–2010“8. Ein wesentlicher Teil des Buches besteht aus Bildmontagen. Im Bildindex finden sich nicht allein Angaben zur Quelle, sondern auch Zitate, die den Kontext der einzelnen Bilder verdeutlichen. Für die Entwicklung ihrer Herangehensweise wie auch für die Aufzeichnungspraxis im Motion Capture Lab besitzt die Arbeit von Frank Bunker Gilbreth (1868–1924) und seiner Frau Lillian Evelyn Moller Gilbreth (1878–1972) historisch entscheidende Bedeutung. Während Mareys und Muybridges Fotografien allenfalls plane Seitenansichten vor quadrierten Hintergrund geben konnten, benutzten die Gilbreths stereoskopisch filmende Kameras für die Bewegungsaufzeichnung. Der Zugewinn ist, dass bereits mit dieser Methode jeder Raumpunkt der Bewegung vermessen werden kann. Der Ansatz der Gilbreths ist arbeitswissenschaftlich. Ihr Ziel war es, die Erfassung von Arbeitsgesten zu verbessern, um Vorschläge zu ihrer Optimierung machen zu können. Dafür entwickelten sie immer wieder neue Methoden der visuellen Repräsentation.
Anette Rose fasziniert neben den arbeitshistorischen Zusammenhängen, wie über visuelle Formen neue Erkenntnisse generiert werden können. Das ist, was ihre Recherchen leitet und die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern für sie interessant macht.
Aus den unzähligen Perspektiven auf den Ingenieur, der den Radialflechter erklärt, hat Anette Rose drei ausgewählt. Durch die drei Projektionen auf Wand und Boden entfaltet sie die synchronen Notationen räumlich und lenkt den Blick auf den Unterschied der erfassten Bewegungsrichtungen (vgl. Abbildung 1). Die frontale Ansicht zeigt die Körpermarkierungen als Pyramide aus fünf Punkten. Die Bewegungslinien der Gesten schwingen hauptsächlich horizontal. Bei der seitlichen Ansicht derselben Bewegung verschieben sich die Körperpunkte zu einer unregelmäßigen Reihe. Die blauen Lichtbahnen markieren die Bewegungen der Hände, wie sie sich in die Tiefe des Raums entfalten. Die Bodenprojektion gibt die Körperpunkte von oben und zeigt das Ausgreifen der Bewegung in Aufsicht. Wie in anderen Arbeiten Anette Roses ist die Isolierung der einzelnen Bewegungssequenzen und ihre räumliche Konfiguration eine analytische und ästhetische Entscheidung zugleich. Die Synchronizität sorgt für die Einheit der einzelnen Projektionen im Raum. Darin unterscheidet sich Roses künstlerische Arbeit von Filmen, in denen Ansichten immer nur nacheinander gezeigt werden können. Die Form der Installation erlaubt die Gleichzeitigkeit zeitlicher Abläufe und ihre räumliche Erfassung. Dies ist im Fall der Dreikanalarbeit mit den Aufnahmen aus dem Motion Capture Lab umso schlüssiger, als es um die räumliche Aufschlüsselung im Bewegungsverlauf der Gesten geht.9
Entscheidend für Roses Arbeit ist, dass sie aus der Fülle des Materials auswählt und reduziert. Die Luzidität ihrer Arbeit besteht in einem Formbewusstsein, dass sich nicht wie bei den Minimalisten auf die reine Form beschränkt.10 Der konzeptuelle Ansatz versteht sich auch immer als intellektuelle Durchdringung der Prozesse, mit denen sie sich auseinandersetzt, bevor sie über Auswahl, Position und Einstellung entscheidet. Dieser Prozess setzt sich bei der Bearbeitung des Materials fort. Ziel der Reduktion ist es, eine visuelle Evidenz zu erzeugen, die eine ästhetische Präsenz erzeugt und zugleich dem Erkenntniszusammenhang entspricht.
Anmerkungen
1 Die Aufnahmen entstanden in Kooperation mit Frau Prof. Dr. Irene Mittelberg, Natural Media Lab, HumTec Centre, RWTH Aachen.
2 Es handelt sich um einen Radialflechter, eine Multiaxialkettenwirkmaschine und eine Greifernadelwebmaschine.
3 Es sind bisher 29 Module, in die sich die „Enzyklopädie der Handhabungen“ von Anette Rose gliedert. Rose, Anette: Enzyklopädie der Handhabungen. 2006–2010, Bielefeld 2011, Modul #15 verputzen, beischleifen, stanzen, stempeln, ketteln, einziehen, tauchen, ringen, walzen, eindrehen, schleifen.
4 Ebd., Modul #4 entgraten, schleifen, verputzen – automatisiert.
5 Ebd., Modul #20.1 – 20.2 flechten – automatisiert.
6 Ebd., Modul #26 flechten – high speed.
7 Rose, Anette: 16 Traumstücke. Video, 51 Min., 16:9, Digibeta, mit Ton. ZDF – Das kleine Fernsehspiel. 2001.
8 Rose (wie Anm. 4).
9 Ebd., Modul #25 flechten, wirken, weben – motion capturing.
10 Vgl. Lindner, Ines: Minimalism reloaded. Zur Typologie sozialer Tatsachen in Anette Roses „Enzyklopädie der Handhabungen“. In: Rose (wie Anm. 4), S. 6–13.
Das Projekt „Captured Motion“ wurde vom Exzellenzcluster „Integrative Produktionstechnik für Hochlohnländer“ der RWTH Aachen gefördert. Die Fertigstellung und Ausstellung in Berlin (Haus am Lützowplatz) und Oldenburg (Edith-Russ-Haus für Medienkunst) 2016 wurde durch ein Stipendium der Stiftung Niedersachsen ermöglicht.
Filmteam der “Enzyklopädie der Handhabungen”: Konzept, Kamera, Montage: Anette Rose | Kamera, Licht: Alexander Gheorghiu, István Imreh | High Speed Kamera: Dipl.-Ing. Achim Hehl, Dipl.-Ing. Viktor Reimer | Ton: Gerrit Lucas, Johannes Schmelzer-Ziringer, Andreas Turnwald, Johannes Varga, Arno Wilms | Schnittberatung: Sala Deinema, Christoph Krüger | Motion Capture Technik: Bela Brenger, Marlon Meuters.
Gefilmt im Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen, Motion Capture Laboratory of Gesture Studies (Natural Media Lab, HumTec Centre) der RWTH Aachen.
In: Gesten. Bessem/Fricke (Hg.) Chemnitz 2019